Unkritische Einladungen haben kritische Folgen

Ich lade Sie zu einem Gedankenexperiment ein: Stellen Sie sich eine öffentliche Spitalsambulanz vor, in der täglich ca. 30 Patienten administriert und behandelt werden. Im Regelfall geht das professionell und mit zumutbarer Wartezeit über die Bühne. Jeder kommt dran, manche brauchen länger, manche kürzer. Es ist alles gut organisiert, die Leute sind zufrieden. Weil man seitens der Verantwortlichen aber hört, dass in anderen Ambulanzen die Situation für die Patienten viel schlechter sei, kommt unsere Ambulanz-Leitung, die auf ihre Leistung stolz ist und natürlich auch nach Profilierung trachtet, auf die Idee, die eigene Einrichtung einmal ordentlich zu bewerben. Man tut dies über die Medien und lässt verlauten, dass die Ambulanz überaus gut arbeite und ausschließlich am Wohle der Menschen orientiert sei. Man betont, es würde jedem etwas geboten und jeder dürfe die Ambulanz auch ohne Einweisung aufsuchen, man sei dort immer willkommen und wirklich alle würden rundum bestens versorgt werden.

 

Aber oje, diese Werbemaßnahmen gehen gründlich schief. Am nächsten Tag bricht nämlich das Chaos aus: statt der üblichen 30 Ambulanz-Besucher stehen plötzlich 200 Leute in der Wartezone, mit allen möglichen chronischen oder akuten Wehwechen, leichte Fälle, schwere Fälle, eingebildete Kranke und viele einfach nur Neugierige, die sich medizinische Gratis-Leistungen abholen möchten.  Die Medien, die am Vortag noch bereitwillig die Werbung für die Ambulanz brachten, sind ebenfalls da und versuchen, eine Story zu ergattern. Man wittert Probleme, denn die ersten Skandal-Rufer in der Menschenmenge werden schon hörbar. Die Reporter debattieren untereinander, sind sich aber überwiegend einig: Es war richtig, diese wunderbare Ambulanz zu bewerben, denn hier menschelt es und alles ist doch so heimelig - das sagten zumindest die Chefs und waren dabei wirklich ganz glaubwürdig.  Die Zweifler an der Sinnhaftigkeit der Werbe-Aktion sind (noch) in der Minderzahl, denn es gilt: Da wird ja etwas für die Menschen getan! 

 

Für das Personal ist die Situation aber bereits vollkommen unübersichtlich, nicht mehr steuerbar und sogar bedrohlich geworden: Viel zu wenige Schwestern und Ärzte müssen sich bemühen, die nach der offiziellen Einladung sehr begehrliche und erwartungsvolle Menschenmenge irgendwie zu versorgen. Einige aggressive Leute unter den am Vortag so großzügig Willkommen Geheißenen stiften bereits Unruhe, man fürchtet schon Handgreiflichkeiten.

 

Der von der massiven Wirkung seiner eigenen Werbung überraschte, aber von der Richtigkeit seiner Aktion noch immer überzeugte Ambulanz-Leiter wird dringend herbei gerufen. Er wirkt angesichts der Menschenmenge heillos überfordert und gibt zunächst nur hohle Phrasen von sich. Allerdings erwarten sein Vize und seine Mitarbeiter umgehend klare Anweisungen, denn er ist der Vorstand und sein Job ist das Management von kritischen Situationen. Also reisst er sich zusammen und sagt: "Wir müssen diesen Menschen helfen! Das sind wir ihnen schuldig! Wir können sie jetzt doch nicht vor der Türe stehen lassen oder gar wegschicken! Also: Lasst sie einfach alle rein, nehmt alle stationär auf, ausnahmslos, verzichtet jetzt auf die Administration und die Erstuntersuchung, fragt gar nicht nach, was die Leute haben oder wollen und schon gar nicht, wer sie sind - das verzögert nur die Aufnahme. Verteilt die Menschen im ganzen Spital auf allen Stationen, legt sie in die Gangbetten, verfrachtet sie in die Sonderklassezimmer - ganz egal, wohin Ihr sie bringt, schaut nur drauf, dass sie nicht im Eingang und in der Wartezone bleiben und dass die Situation medial kein schlechtes Bild ergibt! Die einzelnen Stationen und das Stationspersonal sollen sich dann um die Leute kümmern, nur jetzt bitte einmal weg mit ihnen, so rasch wie möglich!"

 

Dass dieses "Management" kein gutes Ende nehmen wird, ist schon jetzt sonnenklar. Pauschal alle Ambulanzbesucher stationär aufzunehmen, nur weil gerade so viele da sind, entbehrt jeder medizinischen und rationalen Grundlage. Der kapitale Fehler, jegliche Administration, jede Anamnese und die Datenerfassung komplett zu vernachlässigen, hat katastrophale Folgen: Niemand weiß mehr genau, wie viele Patienten wo und weswegen aufgenommen wurden und noch immer werden und niemand kennt die Namen. Das Fatalste dabei ist: Absolut niemand weiß um die Schwere der verschiedenen Krankheiten und um die Gründe, warum die einzelnen Personen überhaupt gekommen sind. Die meist still leidenden Schwerkranken werden deswegen zu spät diagnostiziert oder zunächst übersehen. Dafür werden diejenigen Leute, die laut und begehrlich sind, vorgezogen, um Aufsehen und Beschwerden zu vermeiden. Die Reporter sind ja da...

 

Der Ambulanz-Leiter handelt in dieser Situation trotz der wiederholten Berufung auf seine ärztliche Pflicht zur Hilfeleistung nicht nur unprofessionell und letztlich falsch, sondern er gefährdet mit seinem Tun sogar die wirklichen Patienten: Die Ressourcen jedes Spitals sind begrenzt und müssen daher gezielt eingesetzt werden. Die jeweiligen Grenzen müssen eingehalten werden und die Ordnung muss selbst im Notfall das höchste Prinzip bleiben. Überdies kann und darf man grundsätzlich nicht alles für alle anbieten, das geht immer schief. Anders gesagt: Unkritische und unüberlegte Vorgangsweisen führen in der Medizin (und nicht nur in der Medizin) regelhaft zu nachteiligen und letztlich gefährlichen Situationen.

 

Der Leiter in unserem Beispiel setzt mit seiner Handlungsweise auch sein Personal massiv unter Druck und am Ende wird das gesamte Haus unter seiner Aktion zu leiden haben: Auf den Stationen breitet sich das Chaos aus, es gibt nicht genug Platz und keine Möglichkeiten, die Ankömmlinge zu administrieren und die jeweils notwendigen Diagnose- und Therapiemaßnahmen zu setzen. Die Situation droht völlig zu entgleiten, zumal noch immer weitere neue Interessenten in die Ambulanz strömen.

 

Doch die Rettung aus dem Chaos naht: Einzelne Stationsoberärzte ergreifen die Initiative und sperren ihre Trakte, sie lassen einfach niemand mehr herein. Dafür tun sie etwas anderes, sinnvolles: Interdisziplinäre Teams von Ärzten und Schwestern werden von den verantwortungsbewussten Profis hinausgeschickt und sie machen vor den Toren der Ambulanz jetzt endlich das, was man "Triage" nennt: Bei der Triage versucht man, in einer Menge von Akut-Patienten nach speziellen medizinischen Kriterien die wirklich Bedrohten heraus zu finden und ihnen so rasch wie möglich zu helfen. Die anderen, weniger dringlichen Fälle  werden weggeschickt oder später versorgt. "Triage im Feld" statt "Aufnahme für alle" ist die einzig mögliche und sinnvolle Antwort auf die fatale Fehlentscheidung der Führung. 

 

(Parallelen zu vergangenen und aktuellen politischen Situationen sind durchaus beabsichtigt)

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